Rule 802: Hörensagen
Es war einer dieser düsteren Spätherbst-Abende, an denen der kalte Regen hart gegen die Fensterscheiben prasselt und der Wind unablässig durch die Straßen pfeift. Ich saß in einem kleinen Café, irgendwo in der Stadt, eingehüllt in den warmen Duft von frisch gebrühtem Kaffee. Gegenüber von mir saß Ralf, ein alter Bekannter aus Studienzeiten. Damals hatten wir zusammen Vorlesungen über Rechtsphilosophie und Logik besucht. Heute war Ralf anders. Ruhiger, aber auch rastlos. Er beugte sich vor, seine Stimme senkte sich zu einem verschwörerischen Flüstern.
"Hast du es gehört? Bill Gates. Impfungen. Mikrochips zur Überwachung. Es ist doch offensichtlich! Sie stecken alle unter einer Decke."
Ich seufzte leise. Da war er wieder, dieser Moment, in dem Rationalität und Emotion frontal aufeinanderprallten. Ich nahm einen Schluck von meinem Kaffee, ließ die Worte nachhallen. In meinem Kopf erklang sie, diese trockene, nüchterne Stimme aus dem US-amerikanischen Gerichtssaal: "Hörensagen!"
Ralf runzelte die Stirn. "Was?"
"Rule 802", sagte ich. "Im amerikanischen Beweisrecht: Hörensagen ist unzulässig."
Ralf sah mich verständnislos an. "Was hat das jetzt mit …?"
"Mehr, als du denkst."
Und so begann unsere Diskussion, die sich nicht nur um Verschwörungstheorien drehte, sondern auch um die Frage, warum Menschen dazu neigen, das Schlimmste anzunehmen, und warum das Rechtssystem so viel Wert auf überprüfbare Aussagen legt.
Im Gerichtssaal ist der Einwand des Hörensagens ein mächtiges Werkzeug. Er schützt den Prozess vor Aussagen, die nicht überprüft werden können, weil sie aus zweiter oder dritter Hand stammen. Aussagen wie: "Mein Nachbar hat gehört, dass der Angeklagte den Mord geplant hat." Kein Richter würde das zulassen. Die Quelle fehlt, die Überprüfbarkeit fehlt, und damit auch die Grundlage für eine faire Bewertung. Im Common Law ist das fest verankert, weil man dort weiß, wie gefährlich ungesicherte Informationen sein können. Aussagen müssen überprüfbar sein, direkt, nachvollziehbar. Doch außerhalb des Gerichtssaals gelten solche Regeln nicht.
In der realen Welt, in der Informationsflut des Internets, werden Behauptungen selten geprüft. Sie verbreiten sich rasant, oft befeuert durch emotionale Reaktionen und nicht durch rationale Überlegungen. Verschwörungstheorien gedeihen in diesem Umfeld. Sie ziehen ihre Kraft aus Andeutungen, aus "Insider-Informationen", aus bruchstückhaften Beweisen, die sich niemals vollständig überprüfen lassen.
Ralf ließ sich nicht beirren. "Aber ist es nicht möglich? Ich meine, wir wissen doch nicht alles. Vielleicht stimmt es ja?"
Natürlich, in einer Welt, in der nichts mit absoluter Sicherheit ausgeschlossen werden kann, bleibt vieles theoretisch möglich. Doch hier liegt der Denkfehler. Nur weil etwas nicht widerlegt werden kann, bedeutet das nicht, dass es plausibel oder wahrscheinlich ist. Der berühmte Philosoph Karl Popper betonte einst, dass nur Aussagen von wissenschaftlichem Wert sind, die falsifizierbar sind. Das bedeutet, sie müssen so formuliert sein, dass sie durch Beobachtungen widerlegt werden könnten, wenn sie falsch wären. Eine Theorie, die sich jeder Überprüfung entzieht, ist keine wissenschaftliche Theorie, sondern ein Glaubenssatz.
Dieses Konzept der Falsifizierbarkeit ist ein zentrales Prinzip in der Wissenschaftstheorie.
Popper entwickelte dieses Prinzip als Antwort auf das sogenannte Abgrenzungsproblem, also die Frage, wie wissenschaftliche Aussagen von nicht-wissenschaftlichen unterschieden werden können. Er argumentierte, dass Theorien, die nicht falsifizierbar sind, zur Metaphysik gehören und nicht zur empirischen Wissenschaft. Ein klassisches Beispiel ist die Aussage "Alle Schwäne sind weiß". Diese Aussage ist falsifizierbar, da die Beobachtung eines einzigen andersfarbigen Schwans sie widerlegen würde. Im Gegensatz dazu sind Aussagen, die keine Möglichkeit zur Widerlegung bieten, nicht empirisch-wissenschaftlich.
Es ist wichtig zu betonen, dass Falsifizierbarkeit nicht bedeutet, dass eine Theorie tatsächlich falsch ist, sondern dass sie prinzipiell widerlegbar sein muss. Eine Theorie, die sich jeder Überprüfung entzieht, kann nicht als wissenschaftlich gelten, da sie keine überprüfbaren Vorhersagen macht. Daher fordert das Falsifikationsprinzip, dass wissenschaftliche Hypothesen so formuliert werden, dass sie durch empirische Daten getestet und potenziell widerlegt werden können.
Die Falsifizierbarkeit stellt ein grundlegendes Kriterium dar, um wissenschaftliche Theorien von nicht-wissenschaftlichen zu unterscheiden. Sie gewährleistet, dass wissenschaftliche Aussagen stets offen für Überprüfung und potenzielle Widerlegung sind, was den Fortschritt und die Selbstkorrektur der Wissenschaft ermöglicht.
Ich sah Ralf an. "Stell dir vor, du springst von einem Hochhaus. Während du am 20. Stock vorbei fällst, schaust du um dich und denkst: 'Bisher geht es gut.' Am 19. Stock dasselbe. Also folgerst du: 'Ich werde wohl heil unten ankommen.' Klingt das vernünftig?"
Ralf verzog das Gesicht. "Natürlich nicht. Aber das ist doch was anderes."
"Ist es das? Du nimmst einen Einzelfall – einen speziellen Kontext – und verallgemeinerst ihn. Das ist ein logischer Fehlschluss. Ein klassischer Beweis durch Beispiel. Genau das passiert bei der Bill-Gates-Theorie: Ein spezielles Projekt in Afrika, das Impfungen besser nachverfolgbar machen sollte, wird als Beweis dafür genommen, dass alle Impfprogramme - oder viele, oder eine beliebige Anzahl - weltweit Menschen überwachen. Die Details, der Kontext, die tatsächliche Absicht – all das wird ignoriert. Ein Einzelfall rechtfertigt keine universelle Wahrheit."
Ralf schwieg. Ich wusste, dass solche Beispiele oft nicht ausreichen, um Überzeugungen zu erschüttern. Warum neigen Menschen überhaupt dazu, negative Annahmen zu bevorzugen? Warum glauben Menschen eher, dass eine geheime Elite die Welt kontrolliert, als dass komplexe Probleme einfach aus vielen unüberschaubaren Faktoren entstehen?
Die Psychologie hat darauf eine Antwort. Der sogenannte Negativity Bias erklärt, warum negative Informationen stärker wirken als positive. Evolutionär betrachtet war es für unsere Vorfahren wichtiger, Gefahren schnell zu erkennen, als sich mit angenehmen Dingen zu beschäftigen. Diese tief verankerte Tendenz führt dazu, dass Verschwörungstheorien, die Bedrohungen suggerieren, besonders glaubwürdig erscheinen. Eine harmlose Erklärung ist langweilig. Eine geheime Verschwörung hingegen weckt Aufmerksamkeit und gibt dem Chaos einen Sinn.
Hinzu kommt der Kontrollillusionseffekt. Die Vorstellung, dass mächtige Gruppen die Fäden ziehen, ist für viele angenehmer als die Erkenntnis, dass die Welt oft einfach nur chaotisch und unvorhersehbar ist. Lieber glauben sie an eine geplante Verschwörung als an Zufall und Unsicherheit.
Ralf lehnte sich zurück. "Und was soll man tun? Wie geht man mit solchen Dingen um?"
Ich lächelte. "Frag dich: Ist die Information überprüfbar? Ist sie aus erster Hand? Gibt es unabhängige Bestätigungen? Kann die Behauptung durch überprüfbare Daten getestet werden? Wenn nicht, dann ist sie genauso wenig wert wie eine Aussage, die im Gericht wegen Hörensagen abgelehnt wird."
"Und wenn der andere trotzdem darauf beharrt?"
"Dann bleibt dir nur, die fehlerhafte Logik offenzulegen. Zeig, dass ein Einzelfall kein Beweis für ein universelles Muster ist. Frag nach Daten, nicht nach Meinungen. Und vor allem: Erkenne, dass du niemanden zum Umdenken zwingen kannst. Aber du kannst Denkanstöße geben."
Ralf sah aus dem Fenster in die regennasse Nacht. Irgendwo in ihm arbeitete es. Ich wusste, dass ich ihn nicht von jetzt auf gleich überzeugen würde. Aber vielleicht hatte ich ihm einen Gedanken gepflanzt. Einen kleinen Widerhaken der Logik, der sich festsetzen würde.
"Scheiße! Rule 802!", murmelte er schließlich und schüttelte den Kopf. "Du hast recht. Das macht’s nicht gerade leichter, aber vielleicht klarer."
Ich nickte. "Genau das ist der Punkt."
Und während der Regen weiter gegen die Scheiben prasselte, wusste ich, dass der Kampf gegen Fehlinformationen nicht in hitzigen Diskussionen gewonnen wird, sondern - wenn überhaupt - in der geduldigen Arbeit, Wahrheit von Hörensagen zu trennen.